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- Berliner Ensemble
- Großes Haus
Gespenster (Ghosts)
by Henrik Ibsen
“I am half inclined to think we are all ghosts…it is not only what we have inherited from our fathers and mothers that exists again in us, but all sorts of old dead ideas and all kinds of old dead beliefs and things of that kind. They are not actually alive in us; but there they are dormant all the same, and we can never be rid of them. There must be ghosts all over the country.” Henrik Ibsen
An eerie loneliness rules among the Alving family. The most dangerous ghost in Ibsen’s counter-piece to “A Doll’s House” is the life-long lie of Helene Alving, who has – in stark contrast to Nora in “A Doll’s House” – been wearing her familial corset for far too long. Striving to give her son Osvald the most unencumbered life possible, she must face the painful truth that her devotion to social double standards amounts to the sacrifice of her beloved son. Because Osvald, entirely unaware of the truth, cannot break free from his family’s heritage and goes insane. Incurably ill – like a revenant of his dead father –, he asks his mother of all people to end his young life. We will never be free of the ghosts that we have conjured up because they dwell in our unexplored inner psyche.
Set designer Raimund Orfeo Voigt has created a spatial labyrinth from which there seems to be no escape. No outside to be seen. The isolation that reigns in the Alving household and the impossibility for the individual to penetrate the situation is given a concentrated spatial rendering.
Slovenian theatre and opera director Mateja Koležnik has already directed four of Ibsen’s plays. She regularly works in Vienna, Munich, Frankfurt, Basel and Ljubljana. Mateja Koležnik has received numerous awards and distinctions; her most recent work at Berliner Ensemble was the German premiere of Arne Lygre’s “Nichts von mir (Nothing of Me)”.
- Duration
- 1 hour 30 minutes
- Web
- www.berliner-ensemble.de/en/production/gespenster-ghosts https://www.berliner-ensemble.de/en/production/gespenster-ghosts
Cast
- Actor
- Corinna Kirchhoff
- Paul Zichner
- Veit Schubert
- Wolfgang Michael
- Judith Engel
- Direction
- Mateja Koležnik
- Scene builder
- Raimund Orfeo Voigt
- Costumes
- Ana Savić-Gecan
- Light
- Ulrich Eh
- Music
- Malte Preuss
- Choreography
- Matija Ferlin
- Amely Joana Haag
Author / Composer
- Author
- von Henrik Ibsen
Contents
Zum Stück
Gespenster
von Henrik Ibsen
Wir alle sind Gespenster
Ibsens gesellschaftskritisches Stück Gespenster, im norwegischen Original Gegangere, bedeutet wörtlich übersetzt „Wiedergänger“. Wiedergänger sind ruhelose Geister Verstorbener, sie symbolisieren eine schwerwiegende, ungelöste Vergangenheit, sie stehen für unsere Leichen im dunklen Keller, die früher oder später ans Licht kommen. Henrik Ibsen veröffentlichte das Familiendrama 1881 und es rief aufgrund seiner Thematisierung von außerehelicher Sexualität, verheimlichten „Bastarden“, Inzest, Syphilis, Sucht, Prostitution, Frauenemanzipation, Euthanasie – also der radikalen Infragestellung damaliger gesellschaftlicher und religiöser Konventionen – einen Skandal und Aufführungsverbote hervor. Solche Offenlegungen können unsere gegenwärtig überinfomierte und neoliberale Gesellschaft kaum mehr erschüttern. Dahingegen ist die oftmals gespenstisch erscheinende Wahrheit von tabuisierten Familiengeheimnissen mit katastrophalen Folgen für die nachfolgende Generation, die Wiederholung von Traumata und damit zusammenhängende Krankheiten über Generationen hinweg, von zeitloser Relevanz und inzwischen weitaus genauer erforscht und belegt als zu Ibsens Lebzeiten.
Es herrscht abgrundtiefe Einsamkeit im Hause Alving. Das gefährlichste Gespenst in Ibsens Gegen-Stück zu Nora oder ein Puppenhaus ist die Lebenslüge der Helene Alving, die ihr familiäres Korsett – im Gegensatz zu Nora – zu lange trägt. Um die bürgerliche Fassade aufrecht zu erhalten und ihre Existenz zu sichern, erduldet sie die exzessive Promiskuität ihres Mannes, die ein uneheliches, zu verheimlichendes Kind mit ihrer Hausangestellten Johanne zur Folge hat. Die werdende Mutter wird schnellstens für eine hohe Summe mit dem Tischler Engstrand, inklusive Segen des ahnungslosen Pastor Manders, verheiratet und ihr vermeintlich gemeinsames Kind, Regine, wird viele Jahre später als Hausangestellte im Hause Alving die unausgesprochene Schuld abarbeiten. Osvald Alving, der aus Paris zurückgekehrte Sohn des Hauses, verliebt sich daraufhin – gleich einem Wiedergänger seines verstorbenen Vaters – in Regine, nicht ahnend, dass sie seine Halbschwester ist. Eine fatale Wiederholung zeichnet sich ab.
Helene Alving, die erst als Witwe den Mut findet, ihr hart erarbeitetes Gebäude aus Lebenslügen endlich einstürzen zu lassen, muss erkennen: „Ich glaube fast, wir alle sind Gespenster. Nicht nur das, was wir von Vater und Mutter geerbt haben, spukt in uns herum. Auch alle möglichen mausetoten Anschauungen, Meinungen, alter Aberglaube und so weiter. Es lebt nicht in uns, aber es steckt doch in uns, und wir werden es nicht los. Das ganze Land muss voll sein von Gespenstern!“ Eine zu späte Erkenntnis, denn Untotes ist nicht tot zu kriegen: Grausam wird Helene Alving vor Augen geführt, dass ihre Anpassung an die gesellschaftliche Doppel moral letztlich auf die Opferung ihres einzigen Kindes hinausläuft. Denn Osvald, den sie frühzeitig in fremde Obhut gegeben hat, damit er unbelastet bleibe von dem Skandalon hinter der bürgerlichen Fassade, kann sich nicht mehr von seinem unheilvollen Erbe befreien. Gleich seinem Vater, unheilbar an Syphilis erkrankt, bittet er ausgerechnet seine Mutter darum, sein junges Leben zu beenden.
Helene Alving wird, vergleichbar mit der Tragödie eines Ödipus, unschuldig schuldig. Ibsen schrieb zu der von ihm angestrebten Revolutionierung des Menschengeistes: „Was bei diesem Kampf aufs Messer herauskommt, der zwischen zwei Epochen geführt wird, das weiß ich nicht: alles, nur nicht das Bestehende, und das ist für mich bestimmend! Vom Sieg verspreche ich mir eigentlich keine stabile Verbesserung: Alle Entwicklung ist bis jetzt nichts weiter gewesen als ein Taumeln von einem Irrtum in den anderen.“
Mateja Koležnik hat ihr künstlerisches Konzept mit ihrem Team aufgrund der gegenwärtigen Realität von „Social Distancing“ verändert. Raimund Orfeo Voigt und Leonie Wolf haben dafür ein Raumlabyrinth entworfen, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint und welches gleichzeitig spannungsvoll mit der größtmöglichen Distanz zwischen den Menschen spielt. Die Vereinsamung und die Undurchschaubarkeit der Gesamtdynamik für den Einzelnen verdichtet sich räumlich beklemmend. Kein Draußen in Sicht. Die Zuschauer*innen imaginieren die jeweiligen Begegnungen ähnlich wie beim Film per Schnitt und Gegenschnitt.
Die slowenische Theater- und Opern-Regisseurin Mateja Koležnik hat bereits vier Stücke von Ibsen inszeniert. Sie arbeitet regelmäßig in Wien, München, Frankfurt, Basel und Ljubljana. Koležnik gewann zahlreiche Preise und Auszeichnungen und inszenierte am Berliner Ensemble zuletzt die Deutsche Erstaufführung von Arne Lygres "Nichts von mir".
Von: Amely Joana Haag