Theatergeschichte(n)
Spielstätten-Tour "Arterie der Avantgarde"
Unterwegs mit Theaterscountings

Berlins freie Szene im Bereich Theater und Performance ist divers und mannigfaltig: Rund 60 Spielstätten, darunter 18 Kinder- und Jugendtheater, gibt es in der Stadt zu entdecken. Dort konzipieren, proben und inszenieren mehr als 400 registrierte freie Ensembles und 6700 Künstler*innen, wobei diese Zahl nur jene umfasst, die auch in der Künstlersozialkasse registriert sind. Berlins freie Szene ist nicht nur reich an Orten, sondern auch an Genres: Zu sehen gibt es Schauspiel, Tanz, Performance, Objekt- und Figurentheater, Kinder- und Jugendtheater und Artistik. So werden jährlich ca. 150 Produktionen an über 70 Spielorten dargeboten. Grund genug, der freien Szene einen Besuch abzustatten: Willkommen zur Spielstätten-Tour!
Von Charlotte Bolwin
Es ist ein kühler, klarer Novembernachmittag. Vor der Paulskirche am U-Bahnhof Pankstraße im Stadtteil Gesundbrunnen haben sich rund 40 Menschen unterschiedlichen Alters versammelt. Gut gerüstet mit warmen Jacken, Kameras und Smartphones blinzeln sie in die Sonne. Sie sind für die Spielstätten-Tour der Theaterscoutings Berlin gekommen, die an diesem Samstag an drei exemplarischen Orten Einblicke in die freie Theater- und Tanzszene Berlins gibt – und zwar entlang der U-Bahnlinie 8. Wie wir noch lernen werden, trägt diese nicht von ungefähr umsonst in Fachkreisen den verheißungsvollen Namen „Arterie der Avantgarde“.
Die Gruppe ist heute mit Susanne Chrudina unterwegs. Sie ist nicht nur Expertin für die freie Szene, sondern kennt auch den institutionalisierten Theaterbetrieb: Als Regisseurin war Chrudina unter anderem am Maxim Gorki Theater, am Düsseldorfer Schauspielhaus, am Staatstheater Braunschweig, am Theater LETÍ in Prag und am Theater Magdeburg tätig. Die Freie Szene ist, so versteht man schnell, ihre wahre Leidenschaft. Chrudina ist Mitbegründerin und künstlerische Leiterin der SPREEAGENTEN, einer Gruppe mit Sitz in Berlin, die Theaterprojekte und Performances im In- und auch Ausland realisieren. Als Mitglied des Berliner Landesverbandes Freie Darstellende Künste (LAFT) vertritt sie außerdem die Interessen der professionellen freien darstellenden Kunstschaffenden Berlins gegenüber Öffentlichkeit und Politik.
Bevor es zur ersten Station geht, erklärt Chrudina, was Berlin als Standort für die freie Szene so attraktiv gemacht hat: Günstige Mieten und viel Leerstand im Stadtzentrum zogen nach der Wende junge Kreativschaffende an. Schnell wurde „Eigenbedarf“ für die Kunst angemeldet und Bestandsgebäude zu Ateliers, Probenräumen und Aufführungsorten umfunktioniert. Diese Umwidmung, so erzählt Chrudina, hat auch tatkräftige Renovierungsmaßnahmen beinhaltet. Aber das habe sich natürlich gelohnt: Der Preis für Instandsetzungen und Aufbau waren wertvolle Freiräume für die eigene Arbeit. In der Zeit des Auf- und Umbruchs nach dem Mauerfall, so erklärt sie, sei der Grundstein für die vielfältige freie Szene von heute gelegt worden.
Station 1: Pankstraße / Uferstudios
"Man kann radikaler arbeiten."
Auch die drei Orte, die wir auf dieser Spielstätten-Tour besuchen, sind einst ganz anders genutzt worden. Die erste Station sind die Uferstudios. Ihren Namen verdanken sie dem Flüsschen Panke, das direkt an den Hallen auf dem ehemaligen Gelände der Berliner Straßenbahn-AG entlang fließt. Kontrastreich steht der denkmalgeschützte Klinkerbau heute gegen den wolkenlosen Himmel. Der Industriekomplex wurde nach Plänen von Jean Kraemer errichtet. Der Architekt ist besonders für seine Berliner Straßenbahnhöfe der 1920er-Jahre bekannt. 2010 wurden die Uferstudios von einer neu gegründeten Trägergesellschaft als Spielstätte der freien Szene eröffnet. Davor musste erst einmal umgebaut werden: Unter anderem, so erzählt Chrudina, wurde ein Schwingboden verlegt, der für Tanzproduktionen und vor allem die Gelenke der Tänzer*innen wichtig ist.
Heute stehen in den Uferstudios 14 Studios und Künstlerateliers für Choreograf*innen, Tänzer*innen und andere darstellende Künstler*innen aus aller Welt zur Verfügung, die hier proben und Stücke präsentieren. Außerdem werden die Studios für die Bachelor- und Masterstudiengänge des Hochschulübergreifenden Zentrums Tanz Berlin (HZT) genutzt. Neben den Studios der Tanzfabrik Berlin und dem ada-Studio befinden sich rund um den weitläufigen Innenhof eine Mediathek sowie Seminar- und Büroräume, darunter der des Tanzbüros Berlin. Außerdem sind die Uferstudios Spielort verschiedener Programmreihen und seit 2000 Austragungsort der von der Tanzfabrik Berlin veranstalteten Biennale „Tanznacht Berlin“.
Nach einer Erkundung des Gebäudes von außen sammeln wir uns für einen Probenbesuch vor einem Studio. Susanne Chrudina nutzt die kurze Wartezeit und erzählt, was für sie das Besondere am Arbeiten in der freien Szene ist: Die Strukturen sind dynamisch, die Hierarchien meistens flach. Das Arbeiten sei insgesamt wenig bürokratisch – bis auf das Anträgeschreiben, denn die Fördermittel müssen alle zwei bis vier Jahre neu eingeworben werden. Dass man das gerne in Kauf nehme, bekräftigt auch Regisseur Adrian Figueroa, als er uns in seinen Probenraum bittet. Er arbeitet gerade an seinem neuen Stück AURORA, das Mitte Dezember im HAU Premiere hatte. In der freien Szene, so Figueroa, sei man „einfach freier“ – man könne Experimente wagen und sich Zeit nehmen, die eigenen Ideen auch kompromisslos umzusetzen. „Man kann radikaler arbeiten“, erklärt er, bevor das Licht aus- und das Stroboskop angeht.
Station 2: Weinmeisterstraße / Sophiensæle
"Wir sind kein großes Opernhaus. Wir bieten Raum für Künstler, die noch viel ausprobieren wollen."
Eine halbe Stunde und fünf U-Bahn-Stationen später stehen wir in der Sophienstraße 18. Hier empfängt uns Dramaturg Alexander Kirchner. Mit Blick auf die Fassade der roten Backsteinhäuser erzählt er von der wechselvollen Geschichte dieses Ortes, an dem die Sophiensæle beheimatet sind. Der Theaterbetrieb findet im historischen Klinkergebäude des ehemaligen Berliner Handwerkervereins statt. Ebenso wie die anderen Parteien sind die Sophiensæle hier nur Mieter, die sich alle vier Jahre erneut um eine Förderung bewerben. Dies mache auch einen Großteil der Arbeit aus, erzählt Kirchner.
Oben im stuckbesetzten Festsaal kommt er auf die Geschichte des Gebäudes zu sprechen, die hier sichtbar vor Augen steht. Während der NS-Zeit arbeiteten holländische Zwangsarbeiter im Festsaal an der Herstellung von NS-Flugblättern. In der DDR wurden die Räumlichkeiten vom Maxim-Gorki-Theater als Werkstätten genutzt. Im "Hochzeitssaal" befand sich etwa der Malsaal, im "Großen Festsaal" die Schreinerei.
Nach dem Mauerfall lagen die Sophiensæle plötzlich inmitten der wiedervereinten Hauptstadt. Es gab viel Leerstand und die wilde bunte Nachwendezeit zog mehr und mehr Kunstschaffende nach Berlin. Kirchner erzählt, wie das Gründungsquintett Jochen Sandig, Jo Fabian, Zebu Kluth, Dirk Cieslak und Sasha Waltz die Sophiensaele als Produktions- und Spielort für freies Theater eröffneten – damals in unmittelbarer Laufnähe zum legendären Kunsthaus Tacheles gelegen.
Erst 2011 wurde das Gebäude umfassend saniert. Noch heute, so erklärt Kirchner, sind die Spuren der Nutzungsgeschichte gut sichtbar, zum Beispiel in Form von herausgelösten Wänden und entfernter Stuckatur. Außerdem finden sich viele Relikte aus alten Zeiten – wie zum Beispiel ein Ölkanister, der noch den Inventaraufkleber des Gorki Theaters trägt. Die Anwesenheit dieser Geschichte im Hier und Jetzt und eine gewisse produktive Unfertigkeit präge die Sophiensæle bis heute, schließt Kirchner: "Wir sind kein großes Opernhaus. Wir bieten Raum für Künstler, die noch viel ausprobieren wollen."
Station 3: Kottbusser Tor / Vierte Welt
"Wir versuchen, hier eine Politik der guten Nachbarschaft zu betreiben."
Die dritte und letzte Station der Spielstätten-Tour ist heute ein Hochhaus in Berlin-Kreuzberg. Hier liegt die Vierte Welt – nur einen Steinwurf vom trubeligen Kottbusser Tor entfernt, in einem zehnstöckigen, die Adalbertstraße überbrückenden Hochhaus. Dieses, so erklärt Chrudina, sei „eine wahrgewordene Vision der autofreundlichen Stadt“, wie sie die Stadtplanung in den 1970er-Jahren erdachte. Rund 350 Mietparteien leben hier, dazu gibt es an die 100 Geschäftsräume. Der Gebäudekomplex ist über fünf Zugänge erreichbar und mit einem außen liegenden Umlauf verbunden, der als Balkon und Verbindungsweg zwischen den Wohnungen die Fassade säumt.
Kein Wunder, sagt Chrudina, dass die Kotti-Blocks schon kurze Zeit nach ihrer Fertigstellung zum sozialen Problemfeld wurden. Soziale Missstände, Drogenhandel und Kriminalität hatten zur Folge, dass man schnell wieder wegzog, sodass die Etage, in der heute die Vierte Welt liegt, irgendwann fast leer stand. 2010 eröffnete Dirk Cieslak die Vierte Welt als eine von Künstler*innen organisierte Produktionsplattform. Der performative Denkraum an der Schnittstelle von Diskurs und Kunst lädt regelmäßig zu Veranstaltungen – Theater, Lesungen, Performances und Debatten – ein. Zentral ist die Entwicklung kollaborativer Praktiken und der Austausch mit anderen Künstler*innen und dem Publikum – seien es kunstaffine Stundent*innen, Theatermacher*innen, Tourist*innen oder Menschen aus der Nachbarschaft.
Die Nische der freien Szene bietet auf den nur 130 Quadratmetern der ehemaligen Arztpraxis auch ein gewisses Potenzial. "Man kann viel machen, wenn man sich auf das beschränkt, was man hat“, erklärt Cieslak. Das ist auch die Umgebung. Sich in den Sozialraum der Stadt zu begeben und dazu in Bezug zu setzen, habe die Arbeit von Anfang an geprägt: "Wir versuchen, hier eine Politik der guten Nachbarschaft zu betreiben." Dies gilt genreübergreifend und über die Stadtgrenzen hinaus. Gerade probt in einem der Studios, „Haus der Gemeinen“ genannt, Regisseur Oliver Zahn an einer Performance, für die er ein ethnografisches Lautarchiv mit über 300 Tonbändern sichtet.
"Kann man denn davon auch leben?", fragt eine ältere Dame, die sich nicht vorstellen kann, was von den auf dem Laminat gestapelten Kassettentürmen zu erwarten ist. Das gehe schon, grinst Zahn und zuckt entspannt mit den Schultern. Premiere wird sein Stück „Lob des Vergessens“ in den Münchner Kammerspielen feiern. Hoffentlich kommt es bald nach Berlin, sagt ein Mann, der sich den Termin im Handy notiert, mit Nachdruck.
Lust auf eine Spielstättentour mit Theaterscoutings? Hier finde Sie die aktuellen Termine. MEHR >