Backstage
Kostüme für den Weltuntergang
In der Kostümmalerei für Kreation "Erde" von Nacho Duato für das Staatsballett Berlin

Es ist ein eingespielter Ablauf: Kostümskizzen werden in Schnittmuster übertragen, Stoffe zugeschnitten und zusammengenäht. Dann beginnt die Arbeit der Kostümmaler*innen, die den Stoffen mit Gewebefüller, Rostoxidation, künstlichem Moos, Pailletten und Schmucksteinen buchstäblich zu Leibe rücken. Ausgedacht hat sich das die Berliner Designerin Beate Borrmann für das Tanzstück “Erde” am Staatsballett Berlin.
Von Judith Brückmann
Vier Wochen vor der Premiere von Nacho Duatos neuer Kreation “Erde” für das Staatsballett Berlin besuchen wir mit einer Gruppe Bloggern die Ateliers der “Kleinen Gewerke” beim Bühnenservice Berlin. Hinter dem Ostbahnhof und unweit des Techno Tempels Berghain arbeiten hier auf einer Fläche von 25.000 qm 260 Mitarbeiter*innen in den Dekorations- und Kostümwerkstätten für die drei großen Opernhäuser, das Deutsche Theater Berlin und das Staatsballett Berlin. Unser heutiges Ziel ist die Abteilung für Kostümmalerei und Kostümplastik. Hier werden Stoffe gefärbt, bemalt, bedruckt oder kleine Plastiken wie Tierköpfe hergestellt. In der Kostümmalerei realisieren eine Gewandmeisterin und acht Mitarbeiter*innen die skizzierten Kostümentwürfe für Neuproduktionen oder ändern und reparieren Kostüme.
Im lichtdurchfluteten Atelier der Kostümmalerei stehen mobile Kleiderstangen, an denen aufwendige bunte Tafftroben oder halbfertige Kostüme hängen, die nach der ersten Anprobe umgearbeitet werden oder den letzten Schliff erhalten. In Regalen, die bis zur Decke reichen sitzen Perücken auf Holzköpfen, stapeln sich Hüte und Federboas. In zwei Meter hohen Schubladenregalen sind Garnrollen in allen erdenklichen Farben, Knöpfe, Ösen, Schnallen und Bänder penibel sortiert. Wer für 67 Premieren in der Spielzeit 2016/17 rund 4.000 Kostüme realisiert, braucht Ordnung, Ruhe und Zeit. Für die Herstellung der fast 75 Kostüme für die Neuproduktion “Erde” beginnen die Arbeiten in den Werkstätten sechs Monate vor der Premiere. “Die ersten Überlegungen, Skizzen und Gespräch finden ein Jahr im Voraus statt”, erzählt die Berliner Designerin Beate Borrmann, die gerade von einer Anprobe beim Staatsballett zurückgekehrt ist.

In dem Tanzstück “Erde” für 30 Tänzer*innen thematisiert Nacho Duato die ungebremste Zerstörung der Erde durch den Menschen. Beate Borrmann hat für den siebenteiligen Tanzabend die Kostüme entworfen. Die Berlinerin studierte Modedesign an der Kunsthochschule Berlin Weißensee und Kostüm- und Bühnenbild an der Kunstakademie Krakau. Seit vielen Jahren entwirft sie Kostüme für die Werke von Sasha Waltz, die ab 2019 die Ko-Intendanz des Staatsballetts Berlin übernimmt.
Beate Borrmann erschafft mit ihren klaren Entwürfen für Nacho Duatos Neuproduktion Kostüme, die die Materialien und Begriffe des Stücks aufgreifen. Ihre Realisierung verwandelt die Kostümmalerei in ein alchemistisches Labor. Die Schlichtheit der noch im Werden befindlichen Kostüme von Beate Borrmann täuscht. Ihre Entwürfe erfordern eine aufwendige Bearbeitung der Stoffe, sind raffiniert in Falten gelegt oder nutzen die Sperrigkeit des Materials für eine plastische Theatralik.

Textile Verfahren I: Rostoxidation auf Stoff
Auf einem großen hohen Tisch in der Mitte der Kostümmalerei liegt ein rotbrauner 1,35 x 1,35 m Meter großer Stoff in dessen Mitte sich ein zwischen blau, gelb, rot schimmernder Blasen schlagender Fleck ausdehnt. Der Stoff wird aufwendig bearbeitet, um am Ende eines mehrtägigen Prozesses mit großflächigen, an Rost anmutenden Flecken bedeckt zu sein. Hierfür wird zunächst eine Rostgrundierung aufgetragen und mit Säure zum Oxidieren gebracht. Vereinzelte Wassertropfen oder Wassersprühnebel sorgen anschließend für die typischen gelben Rostflecken. Zum Abschluss der aufwendigen Prozedur wird die Oxidation auf dem Gewebe mit einem Überzugslack fixiert. Ist der Stoff fertig bearbeitet, drapiert Beate Borrmann ihn direkt an den Tänzerinnen und steckt so ein kurzes Kleid ab, das in den Werkstätten genäht wird. “Die chemikalische Bearbeitung wie auch das spätere Tragen der Stoffe ist gänzlich ungefährlich”, versichert Annkathrin Scheiber, die begeistert die einzelnen Schritte erklärt. “Wir waren uns am Anfang auch unsicher und haben extra den Theaterarzt befragt”, schiebt sie auf ungläubige Nachfrage hinterher.

Textile Verfahren II: Kautschuklatex auf Tüll zum Glänzen bringen
Ebenso aufwendig ist die Bearbeitung der hauchdünnen hautfarbenen Tüllstoffe für neun lange Kleider für den Part “Ölpest”. Damit die Kostüme wie von glänzendem Öl verklebt aussehen, bearbeiten die Kostüm*malerinnen die fertig genähten Kleider mit schwarzem Gewebefüller, einem hochelastischen Material auf der Basis von Kautschuklatex. Der Gewebefüller wird dafür auf den auf links gedrehten Tüllstoff “geworfen”, anschließend werden die noch feuchten Farbflecken und -spritzer mit Folie abgedeckt, um den hochglänzenden Farbeffekt zu bewahren. Nach zahlreichem Experimentieren hat sich auch das Aufziehen der Stoffe auf Plastikbüsten bewährt, um den Glanzeffekt beim Trocknen zu erhalten.

Textile Verfahren III: spacer fabric als plastisches Material
Manche Kostüme bedürfen nur eines außergewöhnlichen Materials für eine große Wirkung. Für den Teil “Virus” hat Beate Borrmann 20 Kostüme aus weißem spacer fabrik entworfen. Das weiße, sehr weiche und biegsame Material wird normalerweise als Polstermaterial für Matratzen oder Laptophüllen verwendet. Beate Borrmann kreiert daraus mit nach außen sichtbaren Nähten eine die Körperform negierende Hülle, die den Tänzerkörper wie hinter Milchglas verschwinden und erst in der Bewegung Körperfragmente durchscheinen lässt.

Textile Verfahren IV: Tüll in Falten legen, Pailletten und Schmucksteine aufnähen
Für den Teil “Laser” hat sie aus dünnem Tüllstoff monochrome stahlblaue Ganzkörperanzüge entworfen, die aufwendig gerafft und in Falten gelegt sind. Die unzähligen grünen und goldenen Pailletten, schimmernden Steine von zwei grünen Ganzanzügen nähten Annkathrin Schreiber und ihre Kolleginnen über drei Wochen einzeln an. “Kostüme mit so vielen Applikationen erforderten besonderes Augenmerk”, erklärt Annkathrin Schreiber, “sie dürfen die Bewegungen der Tänzer nicht einschränken”. Die Stoffe müssen dehnbar sein, Verschlüsse, Knöpfe, Verzierungen oder Schnallen dürfen bei Hebungen nicht stören, damit sich die Tänzer*innen nicht verletzen, in den Kostümen des Partners verheddern oder das Kostüm zerreißen.
Nach einer Stunde Stoff- und Materialkunde ist allen klar, dass ein einfaches Stück Stoff wahre Kostümwunder hervorzubringen vermag. Es sind noch vier Wochen bis zur Premiere.