Selbstbezichtigung
Selbstbezichtigung
von Peter Handke
"Ich bin geboren worden. Ich bin in das Geburtenregister eingetragen worden. Ich bin älter geworden." Was so unschuldig beginnt, ändert sich plötzlich: "Ich bin verantwortlich geworden. Ich bin schuldig geworden." Ein Start in die Auseinandersetzung mit höheren und niedrigeren Ordnungsmächten. Handkes teils vergnügliche, teils bittere Sprachkritik entstand vor 50 Jahren im Kontext von sprechenden Titeln wie Hilferufe, Weissagung und, berühmterweise, Publikumsbeschimpfung. Spielerisch schickt Peter Handke seine*n Sprecher*in zur Beichte und nötigt ihm oder ihr eine Selbstbezichtigung ab, wie totalitäre Regime sie ihren Sünder*innen abnehmen. Damit zeigt er etwa die Nähe von Katholizismus und Kommunismus auf und diskutiert die bigotten gesellschaftlichen Schuldbegriffe, bis hin zum eigenen Medium: "Gegen welche Gesetze des Theaters habe ich mich vergangen?" Diese Beichte kann im Theater nur das Publikum abnehmen.
Eine Produktion des Volkstheater Wien.
Dauer
1 Stunde
Web
Besetzung
Autoren
Inhaltsangabe
Mit Publikumsbeschimpfung begann vor fünfzig Jahren die Karriere von Peter Handke als Bühnenautor. Selbstbezichtigung, im gleichen Zeitraum 1965/66 in einer Serie von Sprechstücken entstanden und uraufgeführt, ist dessen komplementäres Gegenstück. Das Publikum wird nicht angegriffen, sondern zur höchsten Instanz aufgewertet, als wäre es ein Gericht oder ein Gott („Gebeichtet wird ans Publikum“, so der damalige Jura-Student Handke in einem Brief an seinen Verleger). Das Publikum repräsentiert die Regeln, gleich ob sie von Staaten, Religionen, Parteien, Gesetzgebern oder Ämtern stammen mögen. Naturwissenschaftliche Gesetze, ungeschriebene Lebensregeln, „Postulate, Grundsätze, Etiketten, Satzungen, allgemeine Meinungen und Formeln“ (P.H.) bilden zusammen einen Katalog von Vorschreibungen, die zu verletzen unumgänglich erscheint. Gleichsam nach dem klassischen Motto „Wer lebt, stört“, demonstriert der Text, welche Fehler einen jeden Lebensweg begleiten. Handke konterkariert für das Theater die geistig-seelischen Entwicklungen des Bildungsromans: Immer neue Stufen des Vergehens werden genommen, freilich nicht psychologisch kontinuierlich, sondern sprachkritisch aufzählerisch. Der oder die Sprecher:in (Handke schrieb den Text ursprünglich für einen Mann und eine Frau, später mochte er sich auch nur einen oder eine Sprecher:in vorstellen) finden sich wieder in einer Ansammlung gesellschaftlich bedingter Schuldkomplexe. Wo Handke verallgemeinert, um schuldhaftes Verhalten eben nicht auf persönliche Schwächen und Fehler zurückzuführen, da gehen Dušan David Pařízek und Stefanie Reinsperger nun den umgekehrten Weg: Sie untersuchen einzelne Selbstbezichtigungen auf erinnerbare Momente, nehmen das Unpersönliche wieder persönlich. Pařízek verabschiedete sich 2012 am Kammertheater Prag nach 14 Jahren als Theaterleiter mit einer selbstreflexiven Publikumsbeschimpfung und einer bilanzierenden Stunde da wir nichts voneinander wussten. Mit Stefanie Reinsperger streift er bisherige gemeinsame Stationen (Der zerbrochne Krug, Nora, Die lächerliche Finsternis). Gemäß Handkes Frage „Gegen welche Gesetze des Theaters habe ich mich vergangen?“ entsteht eine Lebensbeichte, die auch zur Theaterbeichte wird.
Roland Koberg
Berliner Ensemble
Spielstätte:
Neues Haus
Bertolt-Brecht-Platz 1
10117 Berlin