1984
1984
Von George Orwell
Ob als Schüler auf einer Eliteschule, als Polizist, ob als Tellerwäscher, Journalist oder Kämpfer gegen das faschistische Franco-Regime in Spanien – George Orwell hatte Zeit seines Lebens ein präzises Gespür für autoritäre Verhaltensweisen und lehnte sie in jeglicher Form ab. "1984" erzählt satirisch überhöht und darin gleichzeitig wahrhaftig von einer Welt, in der sich der Drang von Wenigen nach totaler Macht durchgesetzt und strukturell verfestigt hat. In seiner Bearbeitung des Romans verfolgt der Regisseur Luk Perceval die widerständige Kraft zweier Liebenden unter den Bedingungen von allgegenwärtigem Misstrauen, propagandistischem Irrsinn und körperlichem Schmerz. Was steht hinter dem Streben nach totaler Macht? Und inwiefern ist die Ordnung, in der wir leben, ein Spiegel unser selbst?
Audiodeskription
Dauer
2 Stunden 15 Minuten
Pausen
1
Web
Besetzung
Autoren
Inhaltsangabe
„Das wirklich Erschreckende am Totalitarismus“, schreibt Orwell 1944, „ist nicht, dass er Gräueltaten begeht, sondern, dass er das Konzept der objektiven Wahrheit angreift: Er erhebt den Anspruch, sowohl die Vergangenheit wie auch die Zukunft zu bestimmen.“ Laut O’Brien, dem Chefideologen des fiktiven totalitären Regimes von „Big Brother“ in 1984, existiert die Wirklichkeit nur im menschlichen Bewusstsein. Und das ist, wie wir nicht erst seit Internet und Fake News wissen, unendlich formbar. Wer also das Denken der Menschen kontrolliert, verfügt über die Welt, gestaltet sie. Gottgleich. Soweit die Idee.Der Atheist George Orwell betont damit die religiöse Dimension totalitären Machtstrebens. Und als Humanist stellt er die Frage nach der Anfälligkeit für die Verheißungen des totalitären Denkens ausgehend von dem menschlichen Grundbedürfnis nach Erlösung von Leid und Schmerz. Das Aufgehen des Einzelnen in einer Idee, die Flucht aus dem privaten, sterblichen Ich, verspricht ungetrübtes Glück und Unsterblichkeit. Denn eine Idee lässt sich nicht töten. Sogar Winston und Julia, die im Roman auf selbstbestimmtem Denken, Fühlen und Begehren bestehen, sind nicht gefeit vor entsprechenden Heilslehren und ihrem allumfassenden Anspruch. Auch sie wären bereit, für deren Durchsetzung Gräueltaten zu verüben, als sie sich der Widerstandsbewegung von Emmanuel Goldstein anschließen, die sich als von O’Brien erfundene Falle herausstellt. Trotz aller Inhumanität in der Menschheitsgeschichte hat Orwell immer an das potenziell Menschliche im Menschen geglaubt. Und an eine gemeinsame, auf Tatsachen und nicht auf Wunschdenken oder paranoiden Feindbildern basierende Geschichte und Gegenwart.Auch Winston und Julia halten daran fest und begehen damit das grundlegende Verbrechen, das alle anderen enthält: „Denkkrim“. Falsches Denken. Denn der Blick auf das, was wirklich ist, ist nicht erwünscht. Durch Folter innerlich gebrochen und umerzogen wird Winston am Ende erschossen. Dass dies dennoch nicht den Sieg des Totalitarismus bedeutet, begründet Margaret Atwood 2003 im Guardian mit dem Anhang des Romans, in dem die Welt von 1984 als eine Vergangene beschrieben wird: „Deshalb glaube ich, dass Orwell sehr viel mehr Zutrauen zur Widerstandskraft des menschlichen Geistes hatte, als ihm gemeinhin attestiert wird.“In diesem Sinne sucht Regisseur Luk Perceval den Lichtstreifen in der ansonsten auswegslosen Geschichte des Romans. Nicht gegen, sondern mit Orwell.von Sibylle Baschung
Berliner Ensemble
Spielstätte:
Großes Haus
Bertolt-Brecht-Platz 1
10117 Berlin