Luise Brechenmacher: Beethoven - Ein Leben ist eine Produktion für Kinder ab zehn Jahren, hat das Ihren Entwurfsprozess beeinflusst?
Verena Hemmerlein: Nein, denn unser Beethoven ist gar nicht so explizit für Kinder gedacht. Er ist auch für erwachsenes Publikum! Ich persönlich arbeite für Kinder gar nicht so viel anders als für Erwachsene. Nur, dass die Themen von Kinderstücken oft sehr fantasievoll sind. Bei Beethoven haben wir hingegen ein historisches und realistisches Thema. Vom Entwurf her bin ich niemand, der Kindertheater bunter gestaltet, als jedes andere Stück. Ich denke, man muss sich davor hüten, nur weil es ein Kinderstück ist, in Klamauk abzudriften.
LB: Wie kamen Sie eigentlich zur Produktion?
VH: Der Kontakt mit dem ATZE Musiktheater kam auf meine Initiative zustande. Ich habe lange in Berlin gewohnt und mir irgendwann gesagt, ich bin so viel unterwegs, bin immer auf Reisen. Und in Berlin gibt's so viele Theater! Ich wollte einfach mal was vor Ort machen und das ATZE war mir sympathisch. Am Anfang meiner Berufslaufbahn habe ich einiges im Kinder- und Jugendtheater gemacht und dann lange Zeit nicht, weil oft die jüngeren Kolleg*innen dafür gebucht werden. Kinder sind ein tolles Publikum, weil sie so ehrlich sind. Das hat mir immer sehr Spaß gemacht. Ich habe dann einfach beschlossen, ich schreib’ mal dem Regisseur und Theaterleiter Thomas Sutter vom ATZE, ob der nicht Interesse hat, etwas mit mir zu machen. Prompt meldete er sich und dann haben wir 2019 Albirea zusammen gemacht. So kommt es, dass ich jetzt hier die Kostüme für Beethoven entwerfe.
LB: Beethoven - Ein Leben ist das erste Gastspiel des ATZE in der Deutschen Oper Berlin. Wie hat sich das Zusammenarbeiten der beiden Häuser auf ihre Arbeit als Kostümbildnerin ausgewirkt?
VH: Wir konnten auf den Fundus der Deutschen Oper zurückzugreifen und einige Stücke abkaufen. So hatten wir eine sehr gute Basis für das Kostüm, was wahnsinnig wertvoll ist, weil das ATZE Musiktheater keine Schneiderei hat. Wir müssen Anfertigungen entweder extern vergeben oder selbst herstellen und und das ist natürlich ein großer Kostenfaktor. Es ist ein großes Privileg an deutschen Stadt- und Staatstheatern nur den Materialetat berechnen zu müssen und eigene Werkstätten mit einer gewissen Stundenzahl pro Produktion zur Verfügung stehen zu haben. Für Beethoven - Ein Leben hatten wir für die Schneiderarbeiten - Neuanfertigungen und Änderungen aller Art - eine sehr schöne Zusammenarbeit mit dem Atelier Charlotte Pocher.
Foto: Jörg Metzner / Verena Hemmerlein bei der Kostümanprobe mit Darsteller Timo Hastenpflug.
LB: In Beethoven – Ein Leben wird neben einem Kammerorchester auch eine Rockband Beethovens Werke interpretieren. Hat die Musik ihren Entwurf inspiriert?
VH: Nein, ich kannte die Bearbeitungen mit der Band und dem Orchester vorher nicht, weil es noch keine Aufnahmen gab. Aber ich kenne die Musik von Beethoven und hatte schon Ideen. Ich habe mich beim Entwerfen vor allem von der historischen Epoche und Schilderungen von Beethovens Charakter leiten lassen und von Thomas‘ Libretto.
LB: Warum haben Sie entschieden, sich an der historischen Mode des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zu orientieren?
VH: Mir war es wichtig, etwas vom Zeitkolorit hineinzugeben und es nicht völlig modern zu machen. Die jungen Zuschauer*innen und eigentlich auch die Älteren wollen einen Eindruck bekommen, wie Beethoven tatsächlich gelebt hat. Von Anfang an gab es den Entschluss, das Kostümbild fragmentarisch zu sehen. Es gibt nicht die von oben bis unten historisch korrekt angezogene Figur. Versatzstücke wie ein Reifrock oder ein Justaucorps bringen den Eindruck der Zeit hinein und helfen den Darsteller*innen, sich in einer gewissen Art zu bewegen. Der Rest wird gespielt. Im Grunde ist das Kostüm nur skizziert. Das deckt sich gut mit der Art, wie Thomas das Stück geschrieben hat. Die Schauspieler*innen schlüpfen in viele Rollen und das in sehr kurzer Zeit ohne die Bühne zu verlassen.
LB: Ich muss kurz nachfragen: Was ist ein Justaucorps?
VH: Ein Justaucorps ist eine Art Gehrock aus der Zeit des Barock und Rokoko, der von der Taille an ausgestellt ist und Schöße hat. Zur Zeit Mozarts bis circa 1780 hat man ihn getragen. Dann wurde er abgelöst durch Fräcke und Gehröcke. Als Beethoven geboren wurde, gab es diese Mode noch.
LB: Die Schauspieler*innen schlüpfen in verschiedene Rollen, aber bei Beethoven selbst ist es umgekehrt: Er wird von zwei Schauspielern gespielt. Wie sind Sie mit diese Doppelbesetzung im Kostüm umgegangen?
VH: Die Person ist zweigeteilt in den gealterten Beethoven, der nach seinem Tode auf sein Leben zurückschaut und den jungen Beethoven, der mittendrin steckt. Ursprünglich dachte ich, dass sie sich sehr ähneln sollen, ich wollte anfangs beide in einem roten Samtfrack haben. Davon hat sich der Entwurf wegentwickelt. Das Stück beginnt damit, dass Beethoven vom Krankenbett auf sein Leben zurückschaut. Wir haben zufällig im Fundus einen Morgenmantel aus rotem Samt gefunden. Der ist für den alten Beethoven viel passender als ein Frack, den nur noch der junge Beethoven trägt. An Rot habe ich ursprünglich gedacht, weil das so eine leidenschaftliche Farbe ist. Beethoven war leidenschaftlicher Mensch, der manchmal cholerisch wurde! Das feurige Rot war mir für den jungen, noch etwas unsicheren Beethoven zu selbstbewusst. Und an unserem Darsteller Timo Hastenpflug hat mir ein dunkles Blau besser gefallen. Das Publikum versteht, dass beide Beethoven sind, also muss ich sie nicht wie Zwillinge auf die Bühne stellen.
Foto: Jörg Metzner / Alter Beethoven im roten Morgenmantel und junger Beethoven im dunkelblauen Frack.
LB: Die Damenkostüme wirken opulent. Gab es die Reifröcke im Opernfundus oder mussten Sie die Damenkostüme selbst herstellen?
VH: Wir haben die Reifrockunterkonstruktion bekommen, über der eine Dame einen transparenten Überrock trägt. Den Oberrock habe ich komplett neu hergestellt, denn sowas findet man nicht so einfach im Fundus. Wir haben auch aus dem Fundus des Deutschen Fernseh-Balletts einige schöne Stücke abkaufen können, da das Ensemble aufgelöst wurde. Von dort haben wir auch ein paar Reifröcke bekommen. Aber verwendet habe ich die von der Oper, weil sie die Rokokoform haben. Das Fernseh-Ballett hatte die runde Reifform.
LB: Was ist der Unterschied?
VH: Es gibt runde Reifen, die hat man im Barock getragen. Im Rokoko hat man Reifröcke gehabt, die zur Seite sehr ausladend waren, aber nach vorne und hinten ziemlich flach.
LB: Einen Reifrock zu bauen - gehörte das zu Ihrer Grundausbildung?
VH: Ich bin ja Kostümbildnerin, ausgebildet an der Kunstakademie in Düsseldorf und mein Studium war Bühnen- und Kostümbild. An der Kunstakademie habe ich nicht gelernt, wie man einen Reifrock herstellt. Wir haben keine Schneiderausbildung gemacht, sondern hatten den künstlerischen Entwurf im Fokus. Es gibt auch reine Kostümbildnerschulen, die eine Schneiderlehre voraussetzen. An der Akademie wurde es allerdings schon gerne gesehen, wenn man sich mit dem Schneiderhandwerk beschäftigt. Ich habe im Studium zum Beispiel eine Korsage mit Stäbchen und allem Drum und Dran genäht.
Foto: Verena Hemmerlein / Figurine bürgerlicher Dame mit Reifrockunterkonstruktion (links) und adeliger Dame mit Reifrock und Überrockfragment (rechts).
LB: Ist Ihnen Nachhaltigkeit im Kostümentwurf wichtig? Sie sprechen viel vom Finden, Wiederverwenden und Aufarbeiten.
VH: Ja, ich lege persönlich großen Wert auf Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Es gehört natürlich zu meinem Beruf, dass ich mir Dinge ausdenke. Es ist auch toll, wenn die Werkstätten von großen Bühnen diese Ideen anfertigen. Das möchte ich nicht missen. Aber ich finde es sehr schön, in einen Fundus abzutauchen, Schätze zu finden und sich davon inspirieren zu lassen.
LB: Haben Sie für Beethoven – Ein Leben überhaupt etwas neu gekauft?
VH: Ja. Zu den hellen Stiefelhosen aus Baumwolle, die auch aus dem Fundus der Oper sind, habe ich Oberteile gekauft. Ganz schlichte weiße Jersey-Shirts aus einer Biobaumwolle von einem Naturhandel. Das, Shirt und Hose, ist unser Grundkostüm für alle Herrenrollen, auf das dann alles mögliche draufgesetzt wird: mal eine Weste, mal ein Frack.
LB: Was ist eigentlich ihr Lieblingskostüm in Beethoven – Ein Leben?
VH: Ich mag das Kostüm Beethovens Geliebter sehr, das auch ein fragmentarisches Kostüm ist. Es besteht aus einer schlichten weißen Korsage und einem üppigen Seidenrock auf Hüftpolstern. Der Rock ist aus einer schönen Doupionseide, die rötlich-gold schimmert. Das Mieder habe ich im Fundus der Deutschen Oper gefunden. Es war unvollendet, wurde für eine Produktion angefangen und dann nicht benutzt. Wir haben es nun zu Ende genäht und einen schönen Ärmel aus Spitze eingesetzt. Es hat immer noch etwas ganz Schlichtes und in Verbindung mit dem opulenten Rock ist das eine Mischung, die ich sehr mag.
Foto: Verena Hemmerlein / Figurine Beethovens Geliebter Josephine Brunswick mit weißem Mieder und Seidenrock.